Aus: "Freundschaften und tiefe Einblicke in die Zeit, Künstlerbücher aus der Sammlung Reinhard Grüner", Hrsg. Angelika Mundorff, Eva von Seckendorff, Fürstenfeldbruck, 2015
14 Erna Lendvai-Dircksen, Henrich Förster "Poisoned Paper Nr. 1", basierend auf Erna Lendvai-Dircksens ”Reichsautobahn. Mensch und Werk" (2 Bände)
Collagen. Henrich Förster (Selbstverlag), o.O., 1937/2009, 24 Seiten (Seitenzahlen - außer Seite 24 - in Rot gestempelt mit Namen von Autor, Künstler sowie dem ursprünglichen und dem überarbeiteten Titel), 1/10 und 3/10 (unikate Exemplare)
Das 1937 erschienene Fotobuch von Erna Lendvai-Dircksen entstand im Auftrag des Reichsministers Fritz Todt, General-Inspektor für das deutsche Straßenwesen, der auch das Geleitwort dafür schrieb. Claudia Schmölders Artikel "Das Gesicht von Blut und Boden" (s. Wikipedia-Eintrag zu Lendvai-Dircksen) bezeichnet die Fotografien als "bildliche Apotheosen der Reichsautobahn". "In Lendvai-Dircksens Band werden Arbeiter besonders aufdringlich heroisiert, Brücken sakralisiert und die Bahnen naturalisiert." (Erhard H. Schütz, Eckhard Gruber, Mythos Reichsautobahn, Berlin, 2000) Der Künstler zerschneidet dieses Fotobuch, das in der Ästhetik des Nationalsozialismus die "Leistungen" Hitlers, hier den Bau der Reichsautobahn, verherrlicht und als Mittel der Propaganda einsetzt. Durch das Collagieren von Text und Bild entsteht eine Ästhetik, die den Heroismus des "schaffenden Volkes" zerstört. Dabei wird auch der nur noch partiell lesbare Text, d.h. die Gedichte und emphatischen Bildunterschriften, in diese Neuschaffung einbezogen. Es entsteht ein in sich geschlossenes Kaleidoskop von Bild und Text, das selbst der Vergänglichkeit preisgegeben ist, da die einzelnen Bestandteile mit Tesafilm fixiert sind. Bei den Büchern handelt es sich um serielle Unikate, die in zehn unterschiedlichen Exemplaren erschienen sind.
Hamburger Abendblatt 20.06.2015
Werkschau im SchauRaum am Schwarzenberg
Unter dem Titel "Alles" zeigt der SchauRaum am Schwarzenberg eine
gemeinsame Werkschau von Sam Flowers und Henrich Förster.
Als Henrich Förster in einem Vorgespräch zur neuen Ausstellung im SchauRaum am Schwarzenberg sein wahrlich reichhaltiges Œuvre umriss, fiel es Galeriechefin Monica Bohlmann schwer, sich für bestimmte Genres zu entscheiden. Zumal der Nordhesse aus Witzenhausen überdies darum bat, auch Werke seiner 2008 verstorbenen Frau Sam Flowers mitbringen zu können. Also sagte Monica Bohlmann irgendwann: "Alles!"
30 Grafiken, 24 Collagen, 22 Objektkisten und drei Skulpturen
Und so heißt die Ausstellung nun auch. Weshalb die geneigten Besucher an diesem und am kommenden Wochenende eine Werkschau erwartet, die tatsächlich von einer
großen Vielfalt geprägt ist. Allein von Sam Flowers werden 30 Grafiken,
24 Collagen, 22 Objektkisten und drei Skulpturen zu sehen sein. In ihnen beschäftigte sich die Künstlerin, die sich in den ersten Jahren ihres Schaffens vornehmlich der Bildhauerei widmete, immer
wieder mit den Themen Partnerschaft, Märkte und Tiere.
Auch Henrich Förster fühlte sich nie nur den klassischen Disziplinen verpflichtet. Obwohl er nicht verhehlen mag, dass er schon ein besonderes Faible für die Malerei hat. Dabei zeigt er bevorzugt Landschaften, vom Hohen Meißner im Osthessischen Bergland bis zu den schottischen Highlands. Nicht selten dienen ihm dabei Fotografien als Vorlagen. "Weil ich mit der Kamera einfach schneller festhalten kann, was ich bei Alltagsbeobachtungen spannend und inspirierend finde", erklärt der 47-Jährige.
Mittel zur entschleunigten Rezeption
Doch nicht immer ist die Fotografie nur Vehikel für eine weitere künstlerische Verarbeitung . Seit vielen Jahren arbeitet der studierte Grafiker auch mit einer Balda Rollbox. Die Lochkamera nutzt er für Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die er als bewussten Gegenpol zur allgegenwärtigen, digitalen Bilderflut sieht. Bei der Arbeit mit dieser alten Kameratechnik wüsste man halt nie, was man kriege: "Es sind Unschärfen drin und auch die Optik selbst ist selten perfekt. Aber gerade das macht für mich den Reiz dieser Bilder aus."
Die übrigens nie vergrößert, verkleinert oder sonst wie beschnitten werden. Förster präsentiert sie als 1:1-Rollfilmkontakte in weißen Passepartouts, die um ein Vielfaches größer sind, als die Fotos selbst. Für ihn ein Mittel zur entschleunigten Rezeption. "Der Betrachter muss die Fotografie im Wortsinn näher betrachten, wenn er etwas erkennen und Details sehen will", sagt Förster.
Collagen entfalten wegen ihrer Anordnung eine
besondere optische Wirkung
Überdies wird er auch sechs grafisch geprägte Kartonschnitte zeigen sowie drei Assemblagen. Das sind Collagen mit plastischen Objekten, die wegen ihrer Anordnung eine besondere optische Wirkung entfalten. Ein typisches Beispiel dafür ist der "Wiederwald". In dieser Assemblage hat Förster die geschwungenen Holzreste von alten Stühlen in einem Rahmen wieder zu dem stilisiert, was sie einmal waren: Bäume in einem Wald. So macht die Werkschau von Sam Flowers und Henrich Förster ihrem Namen "Alles" tatsächlich alle Ehre.
Die erste kleine Flöte aus Schwanenknochen wurde von einem Menschen geschnitzt, der eine Idee von etwas hatte, was wir heute Musik nennen. Zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, vor etwa 3000 Jahren entstanden die ältesten, bisher gefundenen Skulpturen, unter ihnen der Kopf eines Pferdes (1). Wer auch immer das kleine elfenbeinerne Ding gemacht hat, sein Nachfahr ist Picasso und wir können ihm, trotz dem Abstand von Zeit und Welt ein "Dankeschön" zukommen lassen. Schließlich hat er oder sie mit dem Wunsch, einen Pferdekopf darzustellen oder eine Flöte zu spielen, eine lange Kette von Ereignissen begonnen, die von der entschwundenen Lebenswelt unserer Cro-Magnon-Ahnen bis in unsere Gegenwart, und weiter reichen. Ob einer mit einem Feuersteinwerkzeug die Kunst beginnt, einen Eintopf kocht oder in einer Vision vom Pferd fällt (2), derenthalben er die Kirche gründet, er gestaltet damit seine Realität und die seiner Mitmenschen - ob in seinem eigenen Moment des Jetzt oder in "zukünftigen" Momenten des Jetzt. Schlicht: Unsere Gegenwart ist die Summe der Zukunftsentwürfe der Vergangenheit. Wir leben also in Utopien (3), in den Utopien derjenigen, die vor uns waren. Die neuen Ideen, die neuen Anfänge, oder auch nur nötige Veränderungen vom Gehabten werden, vor allem wenn sie mit persönlicher oder gemeinsamer Arbeit verbunden sind, in diesem stetigen Prozess meist nicht mit Wohlgefallen, Zustimmung oder Begeisterung bedacht (4). "Das ist doch utopisch" heißt im "Gebrauchsdeutsch" soviel wie "es ist unmöglich", "es ist nicht zu machen", "es taugt nichts". Und wenn es gar um zukünftige Entwicklungen geht, ist es bequemer, die Vergeblichkeit schon eines Versuchs zu postulieren als die positive Realisierbarkeit desselben. So schrieb vor fast einem Jahrhundert, 1903, die New York Times schadenfroh über einen kläglich gescheiterten Versuch eines der frühen Luftpioniere, sich mit seinem Flugzeug über den Potomac River zu erheben, "es werde wohl noch 10 Millionen Jahre dauern, bis der erste Mensch fliegen könne". Der erste bemannte Flug der Gebrüder Wright fand 10 Tage später statt und dauerte 1,2 Minuten, gefolgt von anderen mehrminütigen Flügen. Hätten die beiden Fahrradfabrikanten nicht so entschieden ihren Traum vom Fliegen verfolgt (5), hätte die New York Times vielleicht recht bekommen und wir wären niemals in den Genuss eines Bordmenues über den Wolken gekommen.
Utopie ist das, woran wir glauben, was wir uns wünschen, ob als Einzelner oder als Familie, Gruppe oder Nation. Und früher oder später realisieren sich unsere Wünsche, Vorstellungen und Annahmen. Auf welchem Weg welche Möglichkeiten wir wahrnehmen, ist unsere Wahl, unsere Entscheidung. Glauben wir der modernen Physik, der Relativitäts- und Quantentheorie, ist die Anzahl unserer Wahlmöglichkeiten größer als wir es uns je erträumen konnten, und damit die der möglichen Wahrscheinlichkeiten (6). Alle Möglichkeiten existieren und alle sind gleich wahrscheinlich. Wir können für uns jede Möglichkeit realisieren, negative wie positive. Natürlich machen Utopien Arbeit und natürlich schmecken Utopien nach Pfefferminze und nach der Venus von Milo (7). Aber: "Alles ist möglich!"
Sam Flowers
Anmerkungen
(1) Das Team von Nicholas Conrad von der Universität Tübingen hat die ersten "Kunst"gegenstände in der Geißenhöhle in der Nähe von Blaubeuren auf der schwäbischen Alb gefunden.
(2) Paulus
(3) Titel eines Buches von Sir Thomas Morus (1478-1535), der mit "Utopia" einen Begriff prägte wie auch eine literarische Gattung.
(4) Für Zeitgenossen von Francis Bacon (1561-1626) wären unsere technologischen Errungenschaften kaum denkbare Zukunftsphatasien oder schlicht "Teufelswerk" und doch sind in "Nova Atlantis" Dinge wie Flugzeuge oder Atomkraftwerke erwähnt, die wie Autos, Handies und Internet heute selbstverständlich zu unserem Alltag gehören.
(5) Pilot und Flugzeug fielen neben der Flugrampe, einem Dampfer in den Potomac River.
(6) In der Quantenphysik wird von einer unbegrenzeten Anzahl von Wahrscheinlichkeiten ausgegangen, die sich alle realisieren, parallel zu unserer Welt. Viele Physiker glauben fest an den von David Deutsch "erfundenen" Quantencomputer, mit dessen Kapazitäten Berechnungen ausgeführt werden könnten, die nicht nur in unserem Universum, sondern mit Hilfe aller Paralleluniversen bearbeitet würden - in den Parallelwelten, den andren Wahrscheinlichkeiten würden die Prozesse ablaufen, für die unsere Kapazitäten nicht ausreichen. Eine schöne Vorstellung - ich möchte den Quantencomputer gerne erleben.
(7) Billy Wilder in "1, 2, 3!